Nachttanzdemo-Gießen

Das Scheißjahr 2020


Was tun? 2020 war ein Jahr voll massiver politischer Auseinandersetzungen und diejenigen, die die Situation für sich ausnutzten ließen sich nicht im mindesten durch die Pandemie bremsen, ja nutzten sie sogar noch als Tarnung für ihr Tun. Das grundsätzliche Recht zur Demonstration war erst zum 16.04. durch Aktivist:innen aus dem Umfeld der Projektwerkstatt Saaßen zurück erstritten worden (Giessener Anzeiger). Da die prekären Situation der Kulturschaffenden in Gießen aber eine große und auffällige Demo erforderte, wir aber keinesfalls die Krise durch ein Super-Spreader-Event verlängern wollten, war die Abwägung schwierig. Die veröffentlichte Meinung war einerseits voller Bedenken (Spiegel), aber auch mit Hoffnungszeichen durch ernsthafte wissenschaftliche Analyse gespickt (Wall Street Journal, New York Times). In diesem Spannungsfeld fand unsere Debatte statt.

Am 14.06. haben wir dann eine Abstimmung gestartet, die nach Abwägung aller Umstände mit 692 zu 170 Stimmen für die Abhaltung einer 'körperlichen' Demo mit umfassenden Sicherheitsmaßnahmen ausging.
Das erste Plenum zur Planung der Demo fand dann am 25.06. statt, dass zweite am 03.07. Den Termin für die mittlerweile fest anvisierte Versammlung hatten wir hier gemeinsam auf den 15.08. gelegt und am 6.07. das erste Sicherheitskonzept veröffentlicht. Bis zur Demo wurden dann wöchentlich Plena abgehalten.

Die Debatte


Die Diskussion drehte sich vor allem um die Frage, ob die Leute in der Lage sind, verantwortlich für sich und andere zu handeln und ein wie auch immer geartetes Sicherheitskonzept auch einhalten würden. Eine philosophische Frage, die aus unterschiedlichen politischen Richtungen verschieden beantwortet wurde. Mehrheitlich setzt sich die Ansicht durch, dass wir auf die Verantwortlichkeit der Menschen setzen können und wollen, sie aber auch nicht in Versuchung führen dürfen. Die Idee, massiv auf autoritär auftretende Ordner zu setzen, wird abgelehnt. Obwohl wir die Idee eines Umzugs schon früh als zu gefährlich verwerfen, kann eine beteiligte Gruppe das Vertrauen in die Vernünftigkeit der Menschen leider nicht mittragen und verabschiedet sich.
Wir entwickeln das Sicherheitskonzept gemeinsam weiter und nennen es schließlich 'Gießener Kreidekreise'. Gleichzeitig läuft das Booking und das Einwerben von Sponsoren - erfolgreich genug um mehr als 30 hauptsächlich lokalen Künstlern wenigstens einen bezahlten und KSK-fähigen Gig in diesem schwierigen Jahr zu verschaffen.Vertreter des Plenums sprechen in den Studierendenparlamenten und ASten von Uni und THM und gewinnen die grundlegende Unterstützung beider Gießener Gremien. Nach Anmeldung der Demo auf dieser Basis und einem erfolgreichen Kooperationsgespräch mit den Vertretern der Ordnungsbehörden steht der Demonstration nun nichts mehr im Weg.

Die Demonstration


Während in den Vorjahren bis zu 4500 Menschen an der Nachttanzdemo teilgenommen hatten, kamen dieses Mal nur ca. 1000 Menschen, die durch den relativ komplizierten Anmeldeprozess gegangen waren, sich strenge Ermahnungen durchgelesen und angehört hatten und doch einfach wunderbar waren!

Verantwortlich und achtsam, fröhlich und kommunikativ haben sich nahezu alle Teilnehmer der Demonstration an die schwierigen und fordernden Regeln gehalten und bewiesen, dass man Menschen mitunter vertrauen kann. Dieser überwältigende Eindruck wurde auch durch die anwesenden Pressevertreter geteilt, was sich auch in entsprechenden Berichten niederschlug:

Stadt Gießen

Anzeiger

HR

Ein guter Eindruck über die politischen Inhalte neben der Hauptforderung findet sich im Bericht von HessenCam widergespiegelt.

Die erstmals vorgestellte Petition an die Stadt fand gute Aufnahme:

Allgemeine,

Anzeiger,

Anzeiger

Insgesamt ein großer Erfolg: Unser Anliegen hatte es in die Medien geschafft und wurde von Seiten der Politik zumindest schon einmal wahrgenommen. Das wir damit natürlich noch nicht am Ziel waren, ist auch klar. Grundsätzlich wollen wir aber einmal festhalten: Wenn man den Leuten nicht blöd kommt, gehen sie mit, und tun in ihrer überwältigenden Mehrheit das Richtige, eben weil sie das ganz von selbst wollen...

Nachtrag:
Auch die folgenden Wochen zeigten, dass das Konzept aufgegangen war: bis heute sind keine mit der Nachttanzdemo in Verbindung stehende Infektionen bekannt geworden, auch die Statistik der folgenden 4 Wochen schließt das nach allen Regeln der Kunst aus.

Der lange, steinige Weg..


Gesagt, getan haben wir dann unmittelbar nach der Demonstration damit angefangen die Petition zu bewerben und Unterschriften zu sammeln. Gar nicht so einfach unter den Umständen einer Pandemie und den entsprechenden Restriktionen. Alle normalen Wege Unterschriften zu sammeln - auf großen Menschenansammlungen, Partys, Fußgängerzonen oder in der Uni waren mehr oder weniger verbaut und so blieb nur die Sammlung im Internet. Das lief auch ganz gut und mit denen auf Papier hatten wir bald 500 zusammen, nur ist das Internet größer als die Gießener Kernstadt und nur die zählt laut Gemeindeordnung. Da wohnen aber nicht alle an Kultur in Gießen Interessierte, Stichwort: Verdrängung. Wir waren uns trotzdem sicher: wir würden es schaffen! Fragt sich nur wie lange wir dafür brauchen würden, und da wir wussten, das es auch dann noch einmal dauern würde, selbst wenn wir die Unterschriften beisammen hätten, sahen wir die Sache schon als gefährdet an.

In dieser Situation gab es aber ein Erbarmen, in Person von Frau Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz, die nach unserem Vorsprechen bei den Fraktionen von SPD und Grünen bereit war, die Forderungen der Petition auch ohne formales Erreichen des Quorums zu diskutieren und auch dafür zu sorgen, dass das Ordnungsamt mit am Tisch saß. Yeah!

Wir ersparen euch die Details der ersten halben Stunde, stellt euch einen Comic mit viel Zack Bumm vor, danach wurde es dann konstruktiv. Während den einen die städtischen Parks heilig waren, zu heilig für Kultur, waren die anderen gegen Versammlungen, ganz grundsätzlich und alle wollten, dass wir ordentlich Nachverfolgbarkeit herstellen.. Ihr könnt euch gar nicht die Überraschung auf den Gesichtern vorstellen, als wir da voll mitgingen, aber wir waren schließlich im Auftrag des Herrn unterwegs und wollten schlicht exakt die Kultur möglich machen, die möglich ist.

Der Kompromiß ist damit folgender: Wir machen keine Versammlungen nach Versammlungsrecht, sondern Veranstaltungen nach Gewerbeaufsichtsrecht, wir erfüllen alle Auflagen und reichen die Konzepte beim Kreisgesundheitsamt ein, melden beim Ordnungsamt an und sind ab sofort gewaschen und gekämmt. Damit das ganze keine negativen Wirkungen auf die Freiheitlichkeit der Nachttanzdemo als solche hat, verbuchen wir das ganze hier als Tor und trennen die Organisation der Kreidekreiskonzerte von der Nachttanzdemo ab. Informationen zu diesen gibt es ab sofort unter
Kreidekreise und unter
Facebook-Gruppe .

Dort findet ihr auch die Fortsetzung dieser Geschichte, unsere Bemühungen, die Kreidekreiskonzerte durch städtische Förderung auch für verarmte Menschen zugänglich zu machen und was alles sonst noch so passierte. Von Seiten der Nachttanzdemo wollen wir nur noch einmal anmerken, dass unsere Forderungen als Demonstration angekommen, diskutiert und im Kompromiß angenommen wurden. Demokratie mag anstrengend sein, aber sie funktioniert auch für Dich...